IV. EIN LEBEN FÜR DIE FORSCHUNG

Meine ethnographischen Forschungen beim Volk der Anyuak im Südsudan erstreckten sich über 15 Jahre, und während weiteren vier Jahren schrieb ich Artikel oder hielt Vorträge (für Workshops oder an Universitäten) über meine Einsichten in die Kulturen des Südsudans; als Berater für das IKRK, für Unicef, Unesco und die Schweizer Regierung verfasste ich verschiedene Studien in ganz unterschiedlichen Bereichen (Sexualverhalten, Medizin, Fischerei, Konflikte usw.); diese Arbeiten wurden fast alle veröffentlicht oder elektronisch an Hilfsorganisationen weitergegeben. Einzig der Prolog zur Geschichte meiner Forschungen beim Volk der Anyuak, die persönlichen, auf «blauen Blättern» geschriebenen Reflektionen und mein Reisebericht aus dem Jahre 2020 wurden nicht publiziert.

Forschungen bei den Anyuak

Das Hauptwerk meiner Forschungen beim Volk der auf Englisch verfassten AnyuakMonographie trägt den Titel «The Anyuak: Living on Earth in the Sky” («Auf der Erde im Himmel sein»). Es ist das Resultat einer 5jährigen, sich über acht Jahre erstreckenden Feldarbeit im Land der Anyuak im Osten des Südsudan. Die Monographie wurde in acht Bänden von zwei Basler Verlagen (Helbing&Lichtenhahn und Schwabe) zwischen 1995 und 2016 veröffentlicht. Auf 2700 Seiten finden sich 1225 Fotographien, Illustrationen, Genealogien, historische Dokumente, Zeichnungen, graphische Darstellungen, eine einmalige, detaillierte Karte, eine Übersicht über die materielle Kultur des Anyuak Volkes; eingefügt in die Monographie sind zahlreiche Mythen, Gesänge und Erzählungen (die mündliche Literatur) sowie eine CD mit Tonbandaufnahmen von Musik, Tanz und Gesängen.

  •  Vol. I “The Sphere of Spirituality ISBN 63-7965-1270-4 *(277p. with 62 pictures) 1994
  • Vol. II The Human Territory“       ISBN 63-7965-1271-2 * (305p.with 131 pictures, a map and an overwiew of seasons) 1996 published by Helbing & Lichtenhahn Verlag, Basel in 1994 and 1996; the remaining 6 volumes published by Schwabe-Verlag, Basel
  •  Vol. III “The Human BeingISBN 3-7965-1272-0* (317p. with 109 pictures  tables etc.)  2003
  • Vol. VII “Spheres of Action: Economics / ArtISBN 978-3-7965-3465-2, (285 p., 289 pictures (some in colour) and a summary of activities) 2016
  • Vol. VIII   “Anyuak Histories(with a Bibliography) ISBN 978-3-7965-3552-9, (380 p. and 115 pictures) 2016

Informationen über den Verlauf der Forschungen und die Persönlichkeit des Forschers finden sich im Buch «Why Did You Come If You Leave Again?» (erschienen im Xlibris Verlag) und im bisher noch unveröffentlichten «Prolog».

(with a Bibliography) ISBN 978-3-7965-3552-9, (380 p. and 115 pictures) 2016

Das ursprüngliche Ziel meiner Feldarbeit bei den Anyuak war die Studie von mündlicher (also ungeschriebener) Literatur, mit Tonbandaufnahmen von Mythen, Erzählungen, Gesängen und geschichtlichen Überlieferungen; die Idee, die gesammelten Informationen über die Kultur des Anyuak Volkes in einer Monographie zusammenzufassen, kam später, auf Grund der grossen Anzahl von Unterlagen und Zeugnissen und auf Druck der Anyuak selbst. Voraussetzung zum Studium der mündlichen Literatur war, die Sprache der Leute zu verstehen. Das Lernen dieser Sprache war eine grosse Herausforderung, denn über die Anyuak Sprache gab es praktisch keine Unterlagen geschweige denn ein Wörterbuch. Im Laufe meiner Feldarbeit lernte ich die Sprache und machte mir Notizen über den Wortschatz oder auch die Grammatik. Auch diese Unterlagen wollte ich nicht für mich selbst behalten, sondern für die Arbeit künftiger Forscher niederschreiben. Das dabei entstandene Wörterbuch enthielt 7000 Wörter und Begriffe aus allen Bereichen, auch Bezeichnungen, die längst nicht allen Anyuak bekannt oder geläufig waren. Das Wörterbuch hatte keine wissenschaftlichen Ambitionen, war aber von einem der grössten Kenner der Anyuak, dem Anyuak General Ogut Obang, auf Korrektheit überprüft und, wo nötig, korrigiert worden. Das Wörterbuch wurde vom amerikanischen Universitätsverlag HRAF (Yale University) in vier Teilen veröffentlicht; es enthält eine kurze Grammatik und ein zweisprachiges Wörterbuch (Anyuak/Englisch und Englisch/Anyuak).

Während den zwei Jahren meiner Tätigkeit als Berater von Unicef (und den in der Operation Lifeline Sudan vereinten 45 Hilfsorganisationen) und für Unesco wurde ich immer wieder gebeten, Vorträge zu halten, Workshops zu organisieren oder Expertisen auf ganz unterschiedlichen Gebieten zu erstellen. Die grösste dieser Untersuchungen betraf das Sexualverhalten der Südsudanesen und war eine Vorbereitung für die Unicef-Kampagne gegen HIV/Aids. Während dreier Monate reiste ich kreuz und quer durch den Südsudan und machte Interviews mit Frauen und Männer aus verschiedenen Stämmen. Das Resultat dieser Untersuchungen fasste ich für Unicef zusammen, aber die erhaltenen Informationen dokumentierte ich in einem 225seitigen Buch, das ich «But you know, Darkness is a big thing…» («Wie du weisst ist Dunkelheit ein grosse Sach..e») betitelte (dies war die Antwort auf meine Frage betreffend die Existenz von Homosexualität im Südsudan gewesen). Das Buch wurde durch ein Vorwort des bekannten Paris Ethnologen Prof. Serge Tornay bereichert und von Unicef elektronisch an sämtliche im Sudan tätigen Hilfsorganisationen weitergeleitet; es wurde vom IKRK ausgedruckt aber nie veröffentlicht, kann aber jetzt hier nachgelesen werden. Das Buch ist eine der besten Einführungen in das Selbstverständnis und Wissen der Südsudanesen, dabei nicht nur interessant, sondern auch sehr unterhaltsam.

Leser, die ihr Bild von den Bewohnern des Südsudans noch erweitern und vertiefen möchten, seien auf einige meiner anderen, kürzeren Beiträge hingewiesen – nachfolgend eine Auswahl:

Im Jahre 2020, vierzig Jahre nach dem Ende seiner Forschungen im Südsudan, unternahm Kwacakworo noch eine letzte Reise zu den Anyuak. Simona Sabljo, Joane Holliger, Roman Stocker und Napoleon Asdok Gai begleiteten ihn. Der unvergessliche Aufenthalt in Kenya und im Südsudan wurde von Kwacakworo im Bericht „Eine Afrika-Reise in bester Gesellschaft“ beschrieben:

Zu meinen Aufgaben als Ethnograph gehörten auch Dokumentationen, also fotographische Aufnahmen (von Menschen und ihren wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Aktivitäten, ihrem Zuhause, ihren persönlichen Schicksalen, ihren Festen und von der Landschaft, in welcher sie leben) und Tonbandaufnahmen (auf dem professionellen Mini-Tonband von Kudelski SNN2) von Musik, Tanz oder Geschichten und das Sammeln von Gebrauchsgegenständen (Töpfe, Speere, Perlenschmuck usw.).

Ungeschnittenes Filmmaterial vom Rätischen Museum. Aktuelle Ausstellungen unter https://raetischesmuseum.gr.ch/de/ausstellungen/Seiten/start.aspx

Fotographien

Zu jener Zeit gab es noch keine digitalen Fotoapparate; ich fotografierte mit einer grossen Nikon F3 und benutzte Kodakchrome Filme (Dias). Beim Fotografieren gab es viele Probleme; da ich nur einen einzigen Fotoapparat besass, musste ich ihn stets vor Schmutz und Wasser schützen; dies war auf den vielen Expeditionen durch Wasser, Schlamm, im Regen oder bei grosser Hitze sehr schwierig, und beim Versuch zu überleben, gab es meistens andere Sorgen als den Zustand meines Fotoapparates. Unmöglich war es für mich auch zu wissen, ob nun ein Foto geglückt war (oder eben nicht) – die Filme mussten ja zuerst noch entwickelt werden. Nicht nur war es unmöglich zu wissen, ob eine Aufnahme meine Erwartungen erfüllen würde (die Spannung war besonders gross bei einmaligen Ereignissen), es war auch nur zu hoffen, dass die Filme, die ich einem nach Malakal reisenden Anyuak mitgegeben hatte, dort wirklich zur Post gebracht worden waren (bei acht Filmen war dies nicht der Fall!); auch die sensiblen Filme würden die Feuchtigkeit oder die Hitze nicht für lange schadlos überstehen. Schliesslich gab es auch das Problem der individuellen Empfindlichkeiten, der Scheu oder Angst der Personen, die ich während ihrer Arbeit fotografieren musste – von Portraits ganz zu schweigen. Die Anyuak hatten das Gefühl, ein Foto würde ihnen einen Teil ihrer selbst wegnehmen und sie würden so die Kontrolle über sich selbst verlieren. Es war mein grundsätzliches Prinzip, keine Aufnahmen ohne das Wissen der Person(en) zu machen, wollte mich auf keine «Raubkunst» einlassen. Ich meine immer noch, dass dieses Prinzip des Respektes einer anderen Person gegenüber gut und wichtig für meine Arbeit und auch meinen Selbstrespekt war – obwohl ich nachträglich schon auch an jene Aufnahmen denke, die ich hätte machen können – aber nicht gemacht habe; so besitze ich keine Aufnahmen im intimen und privaten Bereich, keine Liebespaare und keine Familienszenen – manche wären schon sehr schön und rührend gewesen. Auch Bilder von Gewalt, Gefangenen oder dem unterwürfigen Benehmen der Besucher am Königshof wollte ich nicht machen, selbst wenn die Leute dies weiter nicht gestört oder sogar gefreut hätte. Im Laufe der Zeit gewöhnten sich die Menschen an meine Tätigkeit als Fotograf, denn sie hielt sich ja in Grenzen. Wie ich ihnen nach meiner ersten Rückkehr Abzüge meiner Fotografien zeigte, (und schenkte), freuten sie sich aber riesig und wollten plötzlich alle auch einmal abgelichtet werden.

Tonbandaufnahmen

waren die Voraussetzung für mein Studium der mündlichen Literatur. Praktische Probleme hätte es hier eigentlich nicht geben sollen, denn mein Tonbandgerät brauchte nur wenig Batterie (Vor- und Zurückspulen musste mit einer Kurbel von Hand erledigt werden); aber die Tonbänder waren äusserst empfindlich auf Feuchtigkeit und das Gerät selbst änderte laufend seine Geschwindigkeit und wurde langsam (später würde mir die Firma Kudelski ein Gerät zur Verfügung stellen, mit welchem ich die Geschwindigkeit adjustieren konnte). Nur anlässlich von Festen und Trommeltänzen waren die Aufnahmen spontan; Geschichten wurden meist bei mir zuhause (und von Männern) erzählt. Den Mythos, dass nur Grossmütter den Kindern Märchen erzählen, konnte ich nicht überprüfen – am Abend oder in der Nacht sass ich ja nicht in fremden Hütten und konnte deshalb diesen Aspekt des Familienlebens nicht überprüfen. Beim Geschichten erzählen hörten immer andere Leute zu; deshalb war es oft schwierig, die für gute Aufnahmen nötige Stille zu bekommen; Kinder zeigten für solche Bedürfnisse wenig Gehör. Dank der hohen Qualität der Aufnahmen konnten Lieder und Gesänge später als CD herausgegeben und in meine Monographie eingefügt werden.

Die Originale meiner Fotografien und Tonbandaufnahmen (samt Gerät) habe ich dem ethnographischen Museum der Universität Zürich zur Aufbewahrung übergeben.

Ethnographische Forschungen und Sammlungen von materieller Kultur, Artikel, Bücher

Um die materielle Kultur des Anyuak Volkes umfassend zu dokumentieren, versuchte ich, möglichst alle im täglichen Leben gebrauchte Utensilien zu erwerben. Eigentliche «Kunstwerke» fanden sich nicht oder doch nur in der Anfertigung und der Schönheit der Objekte, seien es Trommeln, Töpfe, Speere, Werkzeuge oder was auch immer. Was nicht materiell war (wie zum Beispiel Körper- oder Haarschmuck) oder was nicht mitgenommen werden konnte (wie zum Beispiel Hütten oder die wichtigen Königsinsignien) wurde fotographisch dokumentiert. Im Laufe der Forschungsjahre wuchs die Sammlung an, aber einige das gesammelte Objekt wurden leider auch gestohlen (so ein auf meinen Wunsch nach alter Art aus scharfen Giraffenknochen hergestellter Speer) oder fielen dem Feuer zum Opfer. Es war schwierig, die gesammelten Objekte tagelang durch die Wildnis zu tragen, sie danach auf einem Lastwagen nach Khartoum zu fahren und schliesslich in die Schweiz zu fliegen. Glücklicherweise hatte sich das ethnographische Museum in Genf für diese Sammlung interessiert. Auf Ersuchen des Museumskurators Claude Savary schrieb ich einen Artikel, der mich auch unter Schweizer Afrikanisten in der Schweiz bekannt machen sollte:

Als ich älter wurde und mir Gedanken über meinen wissenschaftlichen Nachlass zu machen begann, kam ich – dank Oswald Iten – in Kontakt zumVölkerkunde-museum (VMZ) der Universität Zürich und weckte dessen Interesse an den sich in Davos befindlichen Objekten, meinen Forschungsunterlagen, Sprach- und Musikaufnahmen und Fotographien. Das VMZ erstellte ein Inventar und übernahm die Verantwortung für meinen wissenschaftlichen Nachlass. Die sich noch heute im Haus verbliebenen Gegenstände sollten erst später im Museum verwahrt werden, also nach meinem Ableben und nur im Fall, dass die geplante Stiftung zum Erhalt des Hauses sich nicht realisieren und die Gemeinde Davos kein Interesse am Haus zeigen würde. (Genannte Gegenstände werden in der 3dimensionalen Hausdokumentation gezeigt, s. die Webseite des VMZ:

Im Herbst 2022 soll im Rhätischen Museum in Chur eine vom Ethnologen Wendelin Kugler gestaltete Ausstellung eröffnet werden. Im Mittelpunkt der Ausstellung werden dabei für einmal nicht Kunstobjekte von ethnographischer Bedeutung stehen, sondern die Personen, welche solche Objekte gesammelt und nach Graubünden gebracht haben. Ich habe versprochen, in Chur dabei zu sein und bei dieser Gelegenheit auch Geschichten aus meiner Forschungszeit vorzulesen.

Wendelin Kuglers Interview aus dem Jahre 2022 kann hier gehört werden:

https://vimeo.com/717083159/7724d3e273