V. Ein Leben für Menschen in Not
«Das Elend der Menschen ist wirklich sehr gross». Der Mann, der diesen Satz ans Ende seiner Lebensgeschichte gestellt hatte (es war ein Mann vom Volk der Anyuak im Südsudan) hatte dabei nicht an kriegerische Auseinandersetzungen gedacht, sondern lediglich über das Schicksal aller Menschen sinniert. Ja, es stimmt, «das Elend der Menschen ist wirklich sehr gross», und dies ist wohl auch der Grund, weshalb so viele gläubige Menschen an Erlösung von ihrem Leiden und eine bessere Welt, möglicherweise gar an ein Paradies, glauben.
Ich selbst habe in meinem Leben viel von diesem Elend gesehen und oft auch am eigenen Leibe erlebt, und es gibt für mich keine Befreiung von den gewaltsamen Bildern der Vergangenheit. In meinen Geschichten habe ich davon erzählt (Beispiel der junge Bub, dem eine Hyäne das Gesicht weggebissen hatte:
Andere Erinnerungen konnten allerdings nicht in Worte gefasst werden und verbleiben wie Schatten, Scherben oder schwere Gewichte in meinem Kopf, bleiben unbeschreiblich.
Ich habe mein ganzes Leben in Ländern verbracht, wo Krieg herrschte oder wo die vom Krieg geschlagenen Wunden noch nicht geschlossen waren und immer noch bluteten. Als Delegierter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) arbeitete ich in Bangladesh, Vietnam, Indien, in Afghanistan, den fünf Ländern Zentralasiens (Kazakhstan, Uzbekistan , Kyrgistan, Turkmenistan und Tajikistan), im Kongo-Brazzaville und im Südsudan, doch der Kampf ums Überleben war auch an Orten spürbar, wo keine Bomben fielen und wo die Menschen unter den Folgen von zerstörerischen Kriegen oder wegen Hungersnot, Dürre, Überschwemmungen und Krankheiten zu leiden hatten.
Für das IKRK arbeitete ich als Delegierter für Verfolgte (in Bangladesh), Kriegsgefangene (in Indien) und die Zusammenarbeit mit lokalen Hilfsorganisationen (in Afghanistan und Zentralasien), gründete und leitete verschiedene Delegationen (im Südsudan, im Kongo), wurde schliesslich Chefdelegierter für den Südsudan und später Berater des IKRK für seine Arbeit im Südsudan.
Die Erzählung von Napoleon, einem dieser Kindersoldaten über seinen Weg aus dem Südsudan nach Äthiopien ist besonders lesenswert;
Weil zwischen Napoleon und mir im Laufe der Jahre ein enges freundschaftliches Verhältnis entstand, hat ihn der Davoser Filmemacher Roman Stocker anlässlich eines Besuchs im Südsudan 2020 über seine Beziehungen zu mir ausgefragt und sein Interview gefilmt:
Über das IKRK als Hilfsorganisation und meinen Einsatz als Delegierter habe ich einmal (für einen Vortrag in einer Schule) eine Powerpoint-Präsentation erstellt:
Kindersoldaten auf der Flucht
Kindersoldaten waren Teil der Befreiungsarmee des Südsudans und deshalb von einer Unterstützung durch das IKRK eigentlich ausgeschlossen; nur eine strikt neutrale Organisation würde von den Kriegsparteien die Erlaubnis erhalten, Hilfe an zivile Notleidende zu bringen. Mein Ansinnen, den von der äthiopischen Armee verfolgten Kindersoldaten zu helfen wurde deshalb abgelehnt, auch mit dem Argument, dies würde die Glaubwürdigkeit der Neutralität des IKRKs aushöhlen, ein Flugverbot provozieren und damit eine Fortsetzung der Hilfe an alle anderen im Südsudan lebenden Menschen verunmöglichen; mein Argument, es handle sich hier ja um Kinder in Todesgefahr, fand zunächst kein Gehör; die Befreiungsarmee solle ihnen helfen (aber diese war ja selbst auf der Flucht). Dank einem meiner besten IKRK-Freunde (aus der Zeit in Indien), Dominique Gross, glücklicherweise damals Chef des IKRKs im Sudan, erhielt ich die Erlaubnis, den Kindersoldaten bei ihrer Flucht Nahrung und Wasser zur Verfügung zu stellen und sie auf ihrem langen Marsch bis ins Flüchtlingslager in Kakuma in Kenya zu begleiten. Mein Einsatz für diese Kindersoldaten machte mich bekannt als «Father oft he lost boys».
Es ist nicht möglich, meine Erlebnisse und oft schmerzlichen Erfahrungen in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Einige Geschichten wurden in meinem Erzählband «Jeder Schritt ein Abenteuer» niedergeschrieben; auch mein Bericht über die dramatische Rettung der über 10’000 Kindersoldaten findet sich im Buch über meine Zeit beim IKRK; sie soll aber an dieser Stelle nochmals erwähnt sein:
Hilfe an junge Südsudanesen
Meine wachsende Bekanntheit als verlässlicher Freund der Südsudanesen führte allerdings auch dazu, dass ich immer wieder auch privat um Hilfe gebeten wurde; diese Bitten um Unterstützung (Stipendium, Hilfe bei Reisen oder Familienprobleme) konnte ich kaum je abschlagen. Im Alter würde ich die Folgen meiner (oft gutgläubigen) Grosszügigkeit zu spüren bekommen, bereuen will ich es aber nicht: manche der von mir damals unterstützten Kinder (wie zum Beispiel Napoleon) haben meine Starthilfe durchaus gut genutzt und später selbst Verantwortung übernommen.
Die Südsudanesen sagen, sie würden nicht «Danke» sagen (sie haben dafür kein Wort!) würden aber ihre Dankbarkeit für immer im Herzen tragen und dies bei Gelegenheit auch beweisen. Die Ernennung zum Ehrenbürger des Südsudans anlässlich der Unabhängigkeitsfeier 2011 (und die Übergabe des südsudanesischen Passes elf Jahre später) zeigt, dass solche Versprechen nicht nur leere Worte waren und die Südsudanesen – wie Elefanten – tatsächlich nicht so schnell vergessen.