VI. Ein Leben für den Frieden zwischen den Kulturen

Einzelne Persönlichkeiten können viel in Bewegung setzen, im Guten wie im Bösen, in der Wissenschaft, in der Politik oder im alltäglichen Zusammenleben der Menschen. Da war einmal – zum Beispiel – ein unermüdlicher Denker namens Josef Bucher, ein Schweizer Botschafter in Nairobi, der eigentlich für die Länder Ostafrikas zuständig war und sich dennoch auch mit den Ursachen des Krieges im Sudan, dem nördlichen Nachbarland von Kenya, auseinandersetzte. In Nairobi befanden sich viele sudanesische Politiker auf der Durchreise und besuchten bei solcher Gelegenheit oft die Botschaft der Schweiz: das Gespräch betraf dann natürlich immer den Krieg (die Kriege) im Sudan, sei es in den Nuba Bergen, im Südsudan oder auch in Darfur. Der Schweizer Botschafter zerbrach sich den Kopf auf der Suche nach Lösungen der Konflikte, und weil er sehr umsichtig war, suchte er auch nach Leuten, die ihm bei seinen Plänen behilflich sein könnten. Irgendwann stiess er dabei auf den Namen Kwacakworo, einem Schweizer aus Davos, der offenbar im Sudan sehr beliebt war und bei allen Stämmen einen guten Ruf hatte. So kam es, dass ich eines Tages in die Schweizer Botschaft eingeladen und gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, für die Schweiz als Friedensberater zu arbeiten. Dieses Treffen wurde zum Beginn einer sehr erfolgreichen und angenehmen Zusammenarbeit mit Josef Bucher in seiner neuen Funktion als Schweizer Sonderbotschafter für Friedensarbeit im Sudan.

Ein Konflikt, der Botschafter Bucher beschäftigte, waren die militärischen Auseinandersetzungen in den Nuba Bergen. Die Nuba gehörten zu jenen Volksgruppen, die von der Regierung im Sudan unterdrückt, erniedrigt und ausgebeutet wurden; die Nuba wehrten sich, gründeten eine eigene Armee und verbündeten sich mit der Befreiungsarmee SPLA, die ihrerseits für die Unabhängigkeit des Südsudans kämpfte. Die Schweiz (mit Botschafter Bucher) versuchte zu vermitteln und organisierte, zusammen mit den USA, im Januar 2002, eine Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock. Die Konferenz endete mit dem Beschluss, eine internationale Friedenstruppe (Joint Military Commission genannt) in die Nuba Berge zu schicken, mit dem Auftrag, die beiden Kriegsparteien zu entflechten und die Zivilbevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Ich wurde zur Teilnahme an der Konferenz eingeladen, lehnte aber ab; ich war noch nie in den Nuba Bergen gewesen und kannte dort niemanden, konnte also weder Ratschläge erteilen noch Vorschläge machen. Als ich dann aber gefragt wurde, ob ich bereit wäre, bei einer Friedensmission dabei zu sein, sagte ich zu und reiste zur Ausbildung nach Norwegen; die Friedensmission stand nämlich unter norwegischer Führung, mit General Wilhelmsen als Befehlshaber. An der Konferenz wurden vier Sektor-Kommandanten ausgewählt, ich selbst als Kommandant in der von der Befreiungsarmee besetzten Region von Kauda. Während sieben Monaten lebte ich deshalb im Rebellensektor der Nuba Berge, installierte dort eine Militärstation und reiste kreuz und quer durchs Land, zu Fuss, mit dem Auto oder mit dem Helikopter. Der Aufenthalt erlaubte mir, die Nuba Berge kennen zu lernen und machte mich zum Vertrauten der lokalen SPLA-Führer und zum engen Freund vieler  Nuba – vermutlich, weil ich grosses persönliches Interesse am Leben der Nuba gezeigt, Forschungen begonnen, Analysen geschrieben und (für UNESCO) Projekte zur Erhaltung der Nuba Kultur entwickelt hatte.

Die Zeit in den Nuba Bergen gehört zu den besten und eindrücklichsten Erinnerungen aus meiner Zeit im Sudan. Die Nuba sind herzliche und sehr liebe Menschen; ich hätte mir gewünscht, sie für immer von der Unterdrückung durch fremde, rassistisch gesinnte Regierungen befreien zu können und sie glücklich zu sehen.

Leider haben die Nuba von der Befreiung des Südsudans nicht profitiert, und dies, obwohl gerade die Nuba Kämpfer sich im sudanesischen Bürgerkrieg durch grosse Tapferkeit ausgezeichnet hatten. So geht der Krieg in den Nuba Bergen weiter, bis auf den heutigen Tag.

Die Nuba waren grundsätzlich ein friedliches Volk, und Kriege unter ihren zahlreichen Stämmen gab es keine. Die Nuba kämpften gegen die Regierung im Nordsudan, für ihr Land, ihre Würde und ihre Menschenrechte. Die Befreiungsarmee des Südsudans kämpfte zwar auch gegen die Regierung im Norden des Landes, aber gleichzeitig waren die fast hundert Stämme im Süden unter sich zerstritten; Stammeskämpfe verursachten nicht nur grosses Leid unter der Bevölkerung, sondern schwächten auch die Kraft der Befreiungsarmee. Friedenskonferenzen zwischen den Stämmen fanden zwar statt, aber der jeweils vereinbarte Frieden dauerte nie lange, alte, ungelöste Probleme führten immer wieder zu neuen Stammeskriegen. Auf der Suche nach einer politischen Lösung lud Botschafter Bucher Vertreter verfeindeter politischer Gruppen nach Aberdare in Kenya ein. Die Teilnehmer waren alle streitsüchtige Intellektuelle, die durch ihre Hetzreden viel zur Unruhe im Land beigetragen hatten. Botschafter Bucher nahm an der Konferenz nicht teil, da zu befürchten war, dass die Diskussionen zwischen den verfeindeten Südsudanesen in Gewalt ausarten könnten, schickte aber mich als einzigen Ausländer an die Konferenz. Die Gespräche wurden vom Willy Mutunga, einem bekannten Streiter für Menschenreche aus Kenya, geleitet. Das dreitägige Seminar verlief aber friedlich und endete mit dem Vorschlag, eine Institution zu gründen, in welcher alle Stämme des Südsudans vereint würden und in welcher praktische Probleme durch Gespräche friedlich gelöst werden könnten Der Name dieser Intuition sollte «House of Nationalities» («Haus der Nationen») lauten. Dies wurde zum Beginn einer gross angelegten, acht Jahre dauernden Friedensprogrammes, von der Schweiz finanziell unterstützt und von Botschafter Josef Bucher (und später von seinem Nachfolger Botschafter Daniel Bieler) mit ihrem Assistenten Salman Bal in Bern geleitet.

Das «House of Nationalities»  oder «Haus der Nationalitäten» Programm war vielschichtig und bestand

  • aus einer Informationsbroschüre und einem Informationsblatt
  • aus mehreren grossen Konferenzen mit Vertretern aus dem Südsudan in Nairobi in Kenya und in der Schweiz.
  • aus einer grossen Anzahl von Konferenzen in Kenya, Uganda und im Südsudan für bestimmte Gruppen (wie Jugendliche, Frauen und in der Diaspora lebende Südsudanesen).

Bilder von Chiefs

  • aus fünf Gründungskonferenzen in verschiedenen Staaten des Südsudans, mit Vertretern (Königen, Häuptlingen, religiösen Führern, Frauen) sämtlicher im jeweiligen Staat lebenden Stämme. Die verbleibenden fünf Staaten hätten sich im folgenden Jahr treffen sollen, um ein eigenes  «House of Nationalities» zu gründen; dies geschah nicht, weil sich die Schweiz zurückgezogen und die Verantwortung für das Friedensprojekt der provisorischen Regierung des Südsudans überlassen hatte.
  • Auch in den Nuba Bergen fanden zwei grosse Friedenskonferenzen statt; hier ging es nicht um Konflikte zwischen den Nuba Gruppen, sondern um das friedliche Zusammenleben der in den Nuba Bergen ansässigen Menschen (Nuba / nordsudanesische Siedler).
  • einer Orientierungsreise für ausgewählte Stammesführer und Regierungsvertreter in Länder (Südafrika, Botswana und Ghana), wo Friede zwischen ethnischen Gruppen herrscht.
  • einem mehrjährigen DEZA– Stipendienprogramm für junge Leute aus Gegenden, in welchen es keinen Zugang zu Schulen gab. Um an Diskussionen überhaupt teilnehmen zu können, müssten die Stammesvertreter im Forum mindestens eine allgemein bekannte Sprache sprechen – mancherorts gab es überhaupt keine Schule!
  • einem Internetprogramm für die Diaspora. Die Idee kam von Napoleon, der die Webseite «Gurtong» gründete, inspirierte und während vielen Jahren auch leitete. Diese Art der Kommunikation war fundamental wichtig für den Frieden im Südsudan, denn die in der Diaspora lebenden Südsudanesen gossen ständig Öl ins lodernde Feuer der Stammesfehden; durch eine sachliche, nicht emotional geführte Diskussion auf der Webseite sollten mehr Objektivität und gegenseitiger Respekt in die Auseinandersetzungen gebracht werden.
  • Der Erstellung einer Übersicht über die vielen Stämme, die sich im Südsudan befinden und teilweise noch kaum bekannt waren. Diese umfassende Arbeit wurde auf Gurtong veröffentlicht.

Während der Schweizer Botschafter Bucher jeweils die grossen Konferenzen im Ausland organisierte, war ich für die Organisation der Konferenzen im Südsudan verantwortlich. Die beiden Schweizer Botschafter, Josef Bucher und Daniel Bieler, liessen mir bei meiner Arbeit grosse Freiheit; grosses Verständnis für die oft heiklen administrativen Probleme erhielt ich überdies von der Botschaftssekretärin in Nairobi, Nicole Wasem, und in Bern von den Verantwortlichen für die finanzielle Seite des Programmes, Nicole Schneider und Lucette Recordon.

Um die Arbeit am «House of Nationalities» für die Schweizer Regierung zu dokumentieren, habe ich während meiner Tätigkeit als Friedensberater jährliche Rapporte geschrieben, angefüllt mit Dokumenten und eigenen Kommentaren; es sind insgesamt zwölf etwa 6cm dicke Bücher.

Auch die fünf Stammeskonferenzen wurden dokumentiert, mit Bildern der teilnehmenden Stammesvertreter (sechs Bände).

Um die Arbeit am «House of Nationalities» für die Schweizer Regierung zu dokumentieren, habe ich während meiner Tätigkeit als Friedensberater jährliche Rapporte geschrieben, angefüllt mit Dokumenten und eigenen Kommentaren; es sind insgesamt zwölf etwa 6cm dicke Bücher.

Auch die fünf Stammeskonferenzen wurden dokumentiert, mit Bildern der teilnehmenden Stammesvertreter (sechs Bände).

Das «House of Nationalities»-Projekt war als ein rein politisches Projekt zur Lösung von Konflikten zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen erdacht. Dass es dabei wichtig sein könnte, Konflikte nicht nur zu lösen, sondern sie auch zu verhindern, also die verschiedenen Kulturen einander näher zu bringen ohne dass es einen Streit zwischen ihnen gegeben hat. So erarbeitete ich ein Projekt, das ganz auf das gegenseitige Verständnis verschiedener Kulturen ausgerichtet war und durch eine Zusammenarbeit dieser Kulturen viele Konflikten hätte verhindern können. Viele Stammeskriege beruhten nämlich auch auf einer totalen Unkenntnis der Kultur des anderen. Ich war überzeugt, dass grössere Kenntnis einer fremden Kultur auch zu grösserem Verständnis und Respekt führen würde. Schon als Berater von Unicef hatte ich in Lokichokio in Kenya prominente Vertreter von verschiedenen, verfeindeten Stämmen zu mehrtägigen Workshops zum Austausch kultureller Informationen eingeladen und dabei gesehen, dass grössere Kenntnis des Fremden zu Verständnis, Frieden und selbst zu Freundschaft führen kann.

Mein Konzept war umfassend: in Ramciel, zum kleinen Stamm der Atuot gehörenden Dorf in der geographischen Mitte des Südsudans – sollte ein grosses Kulturzentrum entstehen, mit einem Museum, einer Art von «Dorf», das aus  bewohnten traditionell gebauten Häusern aller im Südsudan lebenden Volksgruppen bestehen würde, mit einer Bibliothek, einem Institut für Musik und einem Studium- und Forschungszentrum, in welchem Lehrkräfte über die verschiedenen Kulturen des Südsudans unterrichtet würden, einem Schulungszentrum für Frauen, einem  Friedensinstitut und schliesslich einem grossen Sportzentrum, in welchem Spitzensportler Trainingsmöglichkeiten vorfänden; im Zentrum der Siedlung läge ein grosser Platz mit Tribüne, wo kulturelle Veranstaltung verschiedendster Arten durchgeführt werden könnten (Musik, Folklore, Tanz, Theater usw.), der aber auch für Sportanlässe (Leichtathletik, Fussball, Ringkämpfe usw.) genutzt werden würde. In diesem Kulturzentrum würde es für die im «Dorf» lebenden Kinder natürlich auch eine Schule geben, sowie Unterkünfte für Besucher, Restaurants, eine Klinik usw.  Das Kulturzentrum wäre überdies auch für Touristen interessant, würde es ihnen doch erlauben, auf der Durchgangsreise vom 30km weit entfernten Nil im Osten zum 30km weit entfernten Nationalpark im Westen in Ramciel einen Zwischenhalt zu machen und dabei Einblick in alle Kulturen des Südsudans zu erhalten – und vielleicht sogar Veranstaltungen besuchen zu können.

So ein umfassendes Projekt müsste natürlich auch finanziert werden können, aber mit der Hilfe sämtlicher Hilfsorganisationen (wie Unicef, Unesco, WFP, Sportverbänden und Universitäten) wäre dies damals durchaus möglich gewesen; die Vorstellung, alle Nationen könnten je eine der hundert ethnischen Gruppen unterstützen (beim Hausbau im Dorf etc.) wäre nicht nur interessant, sondern auch realistisch gewesen. Leider zeigten sich die Schweizer Diplomaten an meinem Projekt nicht interessiert, obwohl die politische Führung des Südsudans vom Projekt begeistert und sogar bereit war, den eigenen Plan vom Bau eines Museums in Juba aufzugeben; die Idee einer Konfliktprävention fand leider keine Unterstützung.

Das detaillierte Projekt kann hier angesehen werden:

Menschenrechte

Mein Einsatz für Menschenrechte begann eigentlich mit meiner Arbeit für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. In den Gesprächen mit Regierungsvertretern, Kriegsherren oder Gefängnisdirektoren ging es immer um die in den Genfer Konventionen verbürgten Rechte von Verletzten, Gefangenen, Vertriebenen oder Flüchtlingen: Die Idee, dass man auch Hilflosen ein Recht auf Menschenwürde zugestehen müsse, war nicht immer allen selbstverständlich.

 

Mein Einsatz für Menschenrechte war stets praktischer Natur: wenn man etwas bewirken und zum Besseren verändern will, muss man sich nicht nur theoretisch dafür einsetzen. «Du musst nicht geben, was du hast, du musst geben, was du bist», hatte der Schweizer Dichter Charles Ferdinand Ramuz geschrieben, und dies war wohl zeitlebens meine persönliche Lebenshaltung (und vielleicht der Grund, weshalb ich immer respektiert wurde).

Die Arbeit für das Rote Kreuz aber besonders auch das «House of Nationalities»- Programm gab mir die Gelegenheit, mich für Menschenrechte einzusetzen, für die Würde der Menschen und ihr Recht, von anderen respektiert zu werden. Nebst den erwähnten praktischen Aktivitäten habe ich für das Prinzip der Menschenwürde auch immer wieder in Artikeln und Reden gekämpft, so zum Beispiel an einem Meeting von afrikanischen Menschenrechtsorganisationen in Nairobi,

oder am Weltfriedenstag der UNO in Genf:  

Was von meinem Wirken als Friedensberater schliesslich übrigbleiben wird, weiss ich nicht. Der Mensch sucht Streit und Krieg, damit er nach Harmonie und Frieden dürsten kann. Aber vielleicht habe ich in den Herzen der Südsudanesen doch Samen hinterlassen, die irgendwann Wurzeln schlagen und blühen werden.

Ich kann nur hoffen, dass meine Botschaft für Frieden unter den Kulturen und ihren Menschen nicht vergessen wird, und dass es auf der Erde endlich Gerechtigkeit und Frieden gibt.